Der gut gemeinte Chor
Dieser Text baut auf Teilen meines Vortrags “»Hast du es schon mal mit Yoga probiert?« Selbstoptmierung als ständige Aufforderung bei chronischen Erkrankungen” auf. Alle Bilder habe ich im Mainzer “Brockenhaus” gefunden. Zur besseren Lesbarkeit verwende ich konsequent die weibliche Form, meine aber alle Geschlechter.
Wer chronisch Krank ist, kennt diesen Chor im Bild: Familie, Freunde, Bekannte und komplett fremde Menschen – plötzlich haben sehr viele Menschen sehr viel zu sagen über meine Erkrankung und darüber, wie ich ganz schnell wieder gesund werden kann. Die Ratgebenden sind überzeugt davon, dass sie nur mein Bestes wollen, aber für mich als kranke Person fühlt sich das irgendwie gar nicht so an. Woher kommt das?
Dieser Blogeintrag soll Verständnis wecken für beide Seiten, aber noch mehr soll er dazu anregen, sich zu überlegen, wann Ratschläge wirklich hilfreich sind, und wann sie, wenn ich ganz tief in mich hinein schaue, vielleicht eher mir als der Ratgebenden helfen.
Wir alle haben schon mal Ratschläge erhalten, die wir als Beleidigung unserer Kompetenz empfunden haben, und wir alle haben schon mal Ratschläge verteilt, die beim Gegenüber nicht gut ankamen und Augenrollen ausgelöst haben. Wir alle sind (ein bisschen) davon überzeugt, dass in unserem Falle unsere eigenen Ratschläge aber wirklch gut waren und helfen könnten, wenn die Andere einfach mal zuhören würde.
Was macht einen schlechten Ratschlag aus?
Wenn folgende Punkte auf einen Ratschlag zutreffen, dann war es ein Ratschlag, der sich mehr um mich dreht, als um mein Gegenüber:
- Der Ratschlag kann einem spontan innerhalb von 15 Minuten einfallen, wenn man durchschnittlich gebildet ist.
- Man kann den Ratschlag innerhalb einer 15minütigen Recherche auf Google finden.
- Der Ratschlag ist mir eingefallen, weil er auf einen persönlichen Erfolg von mir aufbaut, auf den ich besonders stolz bin.
- Der Ratschlag ist mir eingefallen, weil er auf dem persönlichen Erfolg von jemand anderen aufbaut, die ich dafür besonders bewundernswert finde.
- Der Ratschlag baut auf einer Sache auf, die ich tue, die für mich persönlich die Erklärung ist, warum ich gesund bin und andere nicht.
- Ich bin überzeigt, dass mein Ratschlag das Problem meines Gegenübers nicht nur teilweise, sondern komplett lösen würde. Ich wäre also deren Retterin.
Was meine ich damit?
Über Ratschläge, die meinem Gegenüber wahrscheinlich auch schon eingefallen sind:
Bis eine Krankheit als chronisch gilt, muss sie mindestens 6 Monate bestehen. Denke ich wirklich, die kranke Person hat in diesen 6 Monaten keine Anstalten gemacht, ihre Situation zu verbessern? Hat sie wirklich keine 15 Minuten über Möglichkeiten nachgedacht, was sie tun könnte, damit es ihr besser geht? In einer Kultur, in der wir wirklich alles googlen, hat diese Person wirklich keine 15 Minuten damit verbracht, im Internet nach Informationen und Lösungen zu suchen? Natürlich glaube ich das nicht. Aber ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
Was ist der Denkfehler? Ich denke, dass mein Gegenüber von mir eine Lösung oder einen Ratschlag erwartet. In Wirklichkeit möchte sie aber Mitgefühl und darin anerkannt werden, dass sie selbst schon viel tut, um ihre Situation zu verbessern.
Was kann ich stattdessen tun? Zuhören und nachfragen, was die Person bis jetzt in Erfahrung gebracht hat und was sie bereits ausprobiert hat, um ihre Situation zu verbessern.
Über den Ratschlag, einfach meinen oder anderer Leute Erfolgen nachzueifern:
Das ist schon etwas schwieriger zu vestehen, wo hier das Problem liegt. Gerade wenn etwas für mich oder andere funktioniert hat, scheint es doch einleuchtend hilfreich. Mir hat etwas geholfen, also kann es meinem Gegenüber vielleicht auch helfen. Aber bei was hat mir mein persönlicher Erfolg geholfen? War es wirklich dasselbe Problem, oder war es einfach nur “auch ein Problem”? Habe ich wirklich dieselbe Erkrankung überwunden, oder eigentlich eine andere Erkrankung – oder bin ich einfach nicht krank geworden und es ist nur mein persönliches Gefühl, dass mein Ratschlag den Unterscheid gemacht hat?
Was ist der Denkfehler? Wir wollen auch für solche Dinge Erklärungen haben, für die es keine endgültige Erklärung geben kann. Gerade wenn es um so beängstigende Dinge geht wie sehr lange krank zu sein. Denn das gibt uns das Gefühl, die Kontrolle zu behalten und uns selbst schützen zu können. Deswegen erfinden wir uns eigene, für uns persönlich plausibel klingende Theorien, warum die Andere krank wurde oder wie sie ganz schnell wieder gesund werden könnte. So können wir das Gefühl haben, dass wir solche Erkrankungen für uns vermeiden können, wenn wir nur das Richtige tun. Am Besten funktioniert dafür etwas, was wir selbst sowieso schon machen oder leicht umsetzen könnten. Dann können wir uns ganz sicher sein, dass uns das nicht passieren kann. Unser Ratschlag an die Andere ist dann eigentlich eine indirekte Versicherung an uns selbst, dass uns das nicht passieren wird.
Was kann ich stattdessen tun? Ich kann mir bewusst machen, dass ich im Leben immer nur Wahrscheinlichkeiten verändern kann, aber niemals volle Kontrolle über mein Schicksal habe. Auch mein chronisch krankes Gegenüber hatte in mancher Hinsicht einfach Pech, dass es sie getroffen hat. Sie ist deswegen nicht automatisch weniger kompetent in Gesundheitsfragen oder hat notwendig weniger getan, um gesund zu bleiben. Selbst wenn die Person ungesunde Verhaltensweisen hat, ist es niemals eindeutig, dass diese Verhaltensweisen allein die Erkrankung ausgelöst haben.
Über die Fantasie, dass mein Ratschlag alle Probleme des Gegenübers lösen würde:
Der letzte Punkt ist einfach zu verstehen. Hier geht es weniger um die Person, der ich den Rat gebe, sondern mehr um meine Fantasie, dass ich selbst besonders klug und hilfreich bin. Auch wenn uns das peinlich ist, wenn wir uns selbst bei dieser Fantasie erwischen, passiert uns das allen manchmal, weil wir uns alle gerne besonders klug und hilfreich fühlen möchten. Außerdem schützt uns auch diese Fantasie wieder vor der Angst, wir könnten selbst einmal länger krank werden. Denn wir haben ja ein 100% wirksames Mittel in der Hand.
Was kann ich stattdessen tun? Ich kann mich selbst wohlwollend dabei erwischen, dass ich in eine Fantasie abgehoben bin. Dann kann ich mich selbst wieder daran erinnen, was realistisch ist und was eine wirklich hilfreiche Freundschaft ausmacht, nämlich für Andere da zu sein und ihnen zuzuhören. Dann bin ich auch besonders hilfreich, aber in der Realität.
Was ist ein guter Ratschlag?
Die besten Ratschläge kann ich geben, wenn mein Gegenüber mich tatsächlich um Rat fragt. Dann kann ich ersteinmal zuhören, was sie beschäftigt und worin genau die Frage liegt. Oft fällt der Anderen beim Erklären des Problems schon selbst eine Lösung ein. Mein Gegenüber fühlt sich dann von mir als in eigener Sache kompetent anerkannt und empfindet mich gleichzeitig als hilfreiche Gesprächspartnerin.
Manchmal werde ich vielleicht auf einem Gebiet um Rat gefragt, in dem ich mich wirklich gut auskenne. Dann kann ich nach bestem Wissen und Gewissen einen Vorschlag machen, den die Andere für sich selbst bewerten kann. Und natürlich bin ich mir bewusst, dass ich nur Ratschläge gebe, die Anstrengung der Umsetzung liegt bei meinem Gegenüber. Vieles ist leichter gesagt als getan.
Wie bin ich wirklich hilfreich für chronisch kranke Menschen?
Der beste Ansatz ist immer, erst einmal zuzuhören und nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstehe. Viel wichtiger als Lösungen vorzuschlagen, ist, ein offenes Ohr zu haben. Meist weiß die Person selbst schon längst, was sie tun muss und möchte, aber braucht jemanden, der sie erzählen kann, wie es ihr geht. Ich kann dann vermitteln, dass ihre Gefühle ok sind, wie sie sind. Wenn die Person zum Beispiel sagt, dass sie Schmerzen hat, sage ich ihr nicht, was sie gegen die Schmerzen tun soll (das weiß und tut sie schon), sondern ich sage z.B. “Ich kann mir vorstellen, dass das schwer auszuhalten ist.” Das wirkt unheimlich stärkend und so können auch sehr schwierige Situationen und Gefühle besser ausgehalten werden.
Wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll, sage ich: “Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll.” Dann weiß mein Gegenüber, dass ich gerade ganz bei ihm bin und es auch mit ihm gemeinsam aushalte, dass es gerade vielleicht keine einfach Lösung gibt. Das ist viel tröstender als jeder gute Ratschlag.
Zu guter Letzt kann ich natürlich auch konkrete praktische Hilfe anbieten, wenn ich das will. Ich frage aber immer vorher, ob diese konkrete Hilfe gerade gewollt ist, bevor ich auf eigene Faust aktiv werde. Dabei ist es leichter für mein Gegenüber, wenn ich etwas ganz konkretes anbiete (”Ich kann heute für dich mit einkaufen gehen.”), als dass ich ihn bitte, sich etwas auszudenken, bei dem ich ihm helfen könnte (”Sag Bescheid, wenn du was brauchst.”).